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Eine zu klärende Frage im Vorfeld eines Vergabeverfahrens ist, was die anstehende Beschaffung den Auftraggeber voraussichtlich kosten wird. Hierzu sind öffentliche Auftraggeber gehalten, eine seriöse Schätzung des voraussichtlichen Auftragswerts durchzuführen. Welche vergaberechtlichen Vorgaben Auftraggeber bei der Schätzung des Auftragswertes beachten müssen, zeigt der nachfolgende Beitrag.  

Die Bedeutung der Schätzung des Auftragswertes

Dass der Auftraggeber, bevor er etwas beschaffen möchte, zunächst die erwarteten Kosten für die Beschaffung ermitteln muss, klingt zunächst wie eine bare Selbstverständlichkeit. Wie sonst soll man feststellen, ob man sich das Gewünschte auch leisten kann? Nur auf der Grundlage einer entsprechenden Kostenschätzung können schließlich die notwendigen Haushaltsmittel bereitgestellt bzw. Fördermittel beantragt werden.

Die Schätzung des Auftragswertes zieht aber weitere Konsequenzen nach sich: So entscheidet die Höhe des Auftragswertes darüber, ob ein EU-weites Vergabeverfahren oder nur eine nationale Ausschreibung erfolgen muss.  Und die Schätzung des Auftragswertes hat noch eine dritte Funktion: Sie kann ein heranzuziehender Maßstab für die Frage sein, ob ein Unternehmen ein preislich „ungewöhnlich niedriges Angebot“ vorgelegt hat. Schließlich kommt es auch für die Frage, ob das Vergabeverfahren ein unwirtschaftliches Ergebnis erzielt hat und also aufgehoben werden soll, maßgeblich auf die Schätzung des Auftragswerts an.

Zentrale Vorschrift: § 3 der Vergabeverordnung (VgV)

Zentrale Vorschrift für die Schätzung des Auftragswertes ist § 3 der Vergabeverordnung. Sie stellt Vorgaben für die Schätzung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen auf. Die Schätzung muss zudem nach den Vorgaben des § 8 VgV dokumentiert werden, damit sie – etwa durch die Nachprüfungsinstanzen – überprüft werden kann. Auf eine sorgfältige Schätzung kommt es insbesondere dann an, wenn der geschätzte Auftragswert nur knapp unter dem maßgeblichen Schwellenwert liegt, der darüber entscheidet, ob EU-weit oder national ausgeschrieben werden muss.

§ 3 VgV enthält zahlreiche Sonderregelungen – etwa für die Schätzung des Auftragswertes einer Rahmenvereinbarung oder eines dynamischen Beschaffungssystems, für die Schätzung von Bau- und Liederleistungen, für regelmäßig wiederkehrende Aufträge oder Daueraufträge (zum Beispiel Stromlieferungen) sowie für Aufträge über Liefer- oder Dienstleistungen, für die kein Gesamtpreis – wenn also zum Beispiel Monatspreise, Tagespauschalen oder Ähnliches  gelten sollen – angegeben wird.  Hier sollen nur die allgemeinen Grundlagen der Schätzung dargestellt werden.

Maßgeblich ist der Gesamtwert

Die Schätzung des Auftragswerts einer Beschaffung hat vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Der Auftraggeber muss sich also fragen, wie hoch die Gesamtvergütung des von ihm beauftragten Unternehmens für die Erbringung des konkreten Auftrags voraussichtlich sein wird. Hierzu ist der Auftragswert zu schätzen.

Bei der Schätzung des Auftragswerts ist vom voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ohne Umsatzsteuer auszugehen. Der Gesamtwert bestimmt sich nach der Summe aller Kosten der nachgefragten Leistungen unter Berücksichtigung jeglicher Geldströme. Sieht der öffentliche Auftraggeber etwa Prämien oder Zahlungen an den Bewerber oder Bieter vor, sind auch diese zu berücksichtigen. Die Schätzung muss insoweit alle geldwerten Vorteile einbeziehen, die ein zukünftiger Vertragspartner aus dem Auftrag ziehen kann. Zudem sind etwaige Optionen oder Vertragsverlängerungen zu berücksichtigen.

Funktionale Betrachtung wichtig

Die Feststellung des Gesamtwerts der Leistung setzt zunächst die Bestimmung des Leistungsgegenstandes voraus. Das kann vor allem dann schwierig sein, wenn eine Gesamtleistung sich aus verschiedenen Teilleistungen zusammensetzt. Dann stellt sich die Frage, ob die Werte der einzelnen Teilleistungen zusammengerechnet werden müssen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)  gilt hierfür eine funktionale Betrachtungsweise. Gedanklich ist zu prüfen, ob die Teilbeschaffungen wirtschaftlich und technisch demselben Vorhaben dienen. Es kommt darauf an, ob die (Teil-)Leistungen in einem unmittelbaren organisatorischen, inhaltlichen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhang stehen. Anders formuliert, maßgeblich ist, ob die eine (Teil-)Leistung ohne die andere (Teil-)Leistung Sinn macht oder nicht.

Ein einheitlicher Auftrag, dessen Gesamtwert der Schätzung zugrunde zu legen ist, ist  dann anzunehmen ist, wenn der eine Leistungs-Teil ohne den anderen Leistungs-Teil keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag. Dabei ist immer auch ein auch räumliche und zeitliche Zusammenhänge von Bedeutung.

Welche Methode ist für die Schätzung zu wählen?

Die Schätzung des Auftragswerts setzt eine realistische, vollständige und objektive Prognose voraus, die sich an den jeweiligen Marktgegebenheiten orientiert. Der Auftraggeber muss eine Methode wählen – so verlangt es die einschlägige Rechtsprechung – die ein wirklichkeitsnahes Schätzergebnis ernsthaft erwarten lässt. Ein pflichtgemäß geschätzter Auftragswert ist jener Wert, den ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber nach sorgfältiger Prüfung des relevanten Marktsegments und im Einklang mit den Erfordernissen betriebswirtschaftlicher Finanzplanung bei der Anschaffung der vergabegegenständlichen Sachen veranschlagen würde.

Der Auftraggeber muss also eine Prognose über die voraussichtlichen Gesamtkosten für den Auftrag anstellen.  Die gewählte Methodik der Kostenermittlung muss grundsätzlich geeignet sein, realistische Marktpreise im Voraus zu schätzen.

Der Schätzung  müssen zutreffende Daten zugrunde liegen. Die Gegenstände der Schätzung und der ausgeschriebenen Maßnahme müssen deckungsgleich sein. Maßgeblich dafür sind die Positionen des Leistungsverzeichnisses, das der konkret durchgeführten Ausschreibung zugrunde liegt.

Es ist naheliegend und zulässig, für die Schätzung des Auftragswerts den bisherigen Auftrag heranzuziehen und diesen als Grundlage für die Schätzung heranzuziehen, welchen Wert der nun anstehende Auftrag haben könnte. Altverträge dürfen jedoch nicht der einzige Anhaltspunkt für die Schätzung des Auftragswertes sein. Der Auftraggeber muss alle gewichtigen Kostenfaktoren, die bereits bislang angefallen oder durch eine Erweiterung des Leistungsspektrums zu erwarten sind, in Betracht ziehen.

Geeignete Grundlage für eine aktuelle und ordnungsgemäße Ermittlung des Auftragswerts ist ein bepreistes Leistungsverzeichnis. Denn dieses ist die dem Beginn der Vergabe zeitlich nächstgelegene Dokumentation der aktuellen Kostenermittlung.

Bei der Kostenschätzung sollte möglichst ein Sicherheitszuschlag – im Regelfall etwa von 10 Prozent – eingepreist werden. Ein Sicherheitszuschlag muss immer dann einberechnet werden, wenn die zu vergebende Bauleistung bisher nicht vollständig feststeht, weil noch die  Planungsleistungen für das zu errichtende Gebäude vergeben werden müssen.

Auch sind zu erwartende Preissteigerungen bei der Schätzung zu berücksichtigen. Nur wenn der Auftraggeber erwartet, dass die Verträge umgehend nach der Schätzung  abgeschlossen und mit der Ausführung des Auftrags begonnen wird, kann davon abgesehen werden,  da die Möglichkeit zukünftiger Preissteigerungen nicht erheblich ins Gewicht fällt.

Es gilt ein Umgehungsverbot

Die Wahl der Methode zur Berechnung des geschätzten Auftragswerts darf nicht in der Absicht erfolgen, sich der Anwendung des EU-Vergaberechts zu entziehen. Mit dieser Formulierung legt § 3 VgV ein so genanntes Umgehungsverbot fest. Verboten ist etwa die künstliche Aufteilung des Auftrags in einzelne Aufträge, obwohl die jeweiligen Teil-Leistungen funktional zusammenhängen.

Auch in dem absichtlichen „Kleinrechnen“ eines Auftrags, dass der also absichtlich niedriger geschätzt wird als tatsächlich zutreffend, liegt eine verbotene Umgehung. Ebenso unzulässig ist eine Beschränkung der Vertragslaufzeit bei an sich längerfristig bestehendem Bedarf zur Vermeidung eines europaweiten Vergabeverfahrens.

Zeitpunkt der Schätzung

Die Schätzung ist vor Beginn des Vergabeverfahrens vorzunehmen, denn von dem Schätzungswert hängt es ab, ob eine Auftragsvergabe oberhalb oder unterhalb der Schwellenwerte stattfindet. Die Schätzung muss aktuell sein. Welcher konkrete Zeitpunkt hierfür maßgeblich ist, hängt von der Art des Vergabeverfahrens ab: Offene Verfahren bzw. nicht offene und Verhandlungsverfahren mit vorherigem Teilnahmewettbewerb beginnen formal mit der Auftragsbekanntmachung.

Daher ist für die Schätzung auf den Tag der Absendung der Auftragsbekanntmachung abzustellen. Bei anderen Verfahren, zum Beispiel ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb, ist die Aufforderung zur Angebotsabgabe als Tag der Einleitung des Vergabeverfahrens und als Stichtag für die Schätzung maßgebend .

Was gilt für Bauleistungen?

Im Fall von Bauleistungen konkretisiert § 3 Abs. 6 VgV, dass bei der Schätzung des Auftragswertes von Bauleistungen neben dem Auftragswert der Bauaufträge der geschätzte Gesamtwert aller Liefer- und Dienstleistungen zu berücksichtigen ist, soweit die Leistungen für  die Ausführung der Bauleistungen erforderlich sind und vom öffentlichen Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden. Dies gilt gemäß § 3 Abs. 7 VgV auch, wenn die Vergabe in mehreren Losen erfolgt.

Aus der Regelung des § 3 Abs. 6 VgV ergibt sich, dass sachlich miteinander im Zusammenhang stehende Bauleistungen für die Bestimmung des Auftragswertes als Einheit zu betrachten sind. Es gilt dabei eine die oben dargestellte funktionale Betrachtung. Es kommt darauf an, ob die verschiedenen Bauleistungen in einem unmittelbaren organisatorischen, inhaltlichen, wirtschaftlichen und technischen Zusammenhang stehen.

Daneben sind nach der Regelung des § 3 Abs. 6 VgV auch Liefer- und Dienstleistungen in die Auftragswertschätzung einzubeziehen, wenn diese den vergaberechtlich  zu bestimmenden funktionalen Zusammenhang zu der Bauleistung aufweisen. Die Regelung bezieht vor allem gesondert vergebene Liefer- und Dienstleistungen in den Auftragswert mit ein,  die für die Ausführung des Bauauftrages erforderlich sind und vom öffentlichen Auftraggeber zur Verfügung gestellt werden.

Dieser Fall liegt vor, wenn die Liefer- bzw. Dienstleistungen in einem engen Zusammenhang zu dem Bauvorhaben stehen, nämlich für die Ausführung der Bauleistungen technisch erforderlich sind. Das sind Planungsleistungen und sonstigen Dienstleistungen, durch die getrennt vergebenen Bauleistungen umgesetzt werden bzw. die selbst objektive Voraussetzung für die ordnungsgemäße Erbringung der Bauleistungen sind. Nicht hinzuzurechnen sind Rechtsberatungsleistungen im Kontext der Vergabe des Bauvorhabens, weil sie nicht dem Erbringer der Bauleistungen zur Verfügung gestellt werden, sondern auftraggebereigene Leistungen betreffen.

Auch sonstige Baunebenkosten, also Kosten, die dem öffentlichen Auftraggeber im Zuge der Realisierung des Bauvorhabens entstehen, die aber nicht unmittelbar der Ausführung der Bauleistung dienen, etwa Kosten von (Bau-)Genehmigungen, Kosten für Versicherung und die Finanzierung des Bauvorhabens, aber auch allgemeine Verwaltungskosten des öffentlichen Auftraggebers sind nicht mit einzurechnen.

Grundsätzlich sind den Kosten der reinen Herstellung eines Bauwerks alle Leistungen, die der Herstellung der Funktionsfähigkeit des Gebäudes dienen, hinzuzurechnen. So auch der Einbau von Klimaanlagen und anderer Gebäudetechnik. Aber auch die Erstausstattung, soweit sie funktional erforderlich ist.

Beispiele aus der Rechtsprechung

Bei einem Klinikneubau stellt der Einbau von Sterilisatoren einen funktionalen Zusammenhang dar. Beim Neubau eines Planetariums steht der Planetenprojektor in einem funktionalen Zusammenhang mit dem Gebäude. Der Kauf von IT-Ausstattung oder die Lieferung mobiler Büroeinrichtungsgegenstände steht dagegen in keinen funktionalen Zusammenhang zum Bauwerk.

Wie gehen Sie praktisch vor?

Ausgangspunkt ist die Bestimmung, was Gegenstand des zu betrachtenden Auftrags ist. Zwischen verschiedenen Maßnahmen besteht ein Zusammenhang aufgrund der gebotenen „funktionellen Betrachtungsweise“ wenn Baumaßnahmen ohne die jeweils anderen Bauabschnitte keine sinnvolle Funktion erfüllen können, sodass eine Aufteilung nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt ist.  Ein Zusammenhang besteht auch hinsichtlich erforderlicher Planungsleistungen und Leistungen, die der Herstellung der Funktionsfähigkeit des Gebäudes dienen

Als Anhaltspunkt zur Bestimmung der Höhe ist die DIN 276 heranzuziehen, die die Kostenermittlung im Hochbau bestimmt  und nach einzelnen Gruppen sortiert. Erfasst werden müssen demnach die Kosten des Bauwerks, einschließlich der Baustelleneinrichtungskosten, der Außenanlagen sowie die hiermit zusammenhängenden Kosten.

Kostengruppen (KG) der DIN 276 sind: KG 100 Grundstück, KG 200 Herrichten und Erschließen, KG 300 Bauwerk – Baukonstruktionen, KG 400 Bauwerk - Technische Anlagen, KG 500 Außenanlagen, KG 600 Ausstattung und Kunstwerke  sowie KG 700 Baunebenkosten.  Der Grundstückswert und die durch die Herrichtung des Baugrundstücks sowie öffentliche Erschließung des Baugrundstücks verursachten Kosten sind bei der Auftragswertschätzung nicht zu berücksichtigen (KG 100 und KG 220, 230; "anteilige Kosten aufgrund gesetzlicher Verpflichtungen" und "anteilige Kosten für Verkehrsflächen und technische Anlagen, die ohne öffentlich-rechtliche Verpflichtung mit dem Ziel der späteren Übertragung in den Gebrauch der Allgemeinheit aufgewendet werden"); nicht zu berücksichtigen sind zudem einmalige Abgaben (KG 240), Einbauten in Außenanlagen (KG 550), Kosten beweglicher Ausstattungs- und Einrichtungsgegenstände (KG 610, 621) und Baunebenkosten (KG 700) . Auch Abbruchkosten und Kampfmittelbeseitigung können unberücksichtigt bleiben.

Nicht eingerechnet werden müssen  grundsätzlich Baunebenkosten, zu denen alle Kostenpositionen zu zählen sind, die nur im Kontext des Bauvorhabens entstehen. Hierzu zählen etwa Finanzierungsleistungen und Versicherungen.

Was gilt für Lieferleistungen?

Bei Lieferleistungen müssen der Schätzung des Auftragswertes Auftrags alle „gleichartigen Lieferungen“ zum Grunde gelegt werden. Hierunter werden Lieferungen bzw. Lieferleistungen verstanden, die eine vergleichbare wirtschaftliche oder technische Funktion aufweisen oder für gleichartige Verwendungszwecke vorgesehen sind, wie zum Beispiel Lieferungen einer Reihe von Nahrungsmitteln oder von verschiedenen Büromöbeln, die typischerweise von einem in dem betreffenden Bereich tätigen Teilnehmer als Teil seiner üblichen Palette angeboten werden.

Dieser Beitrag stammt aus dem KOINNOmagazin 01/2025 von Rechtsanwalt Oliver Hattig, Hattig und Dr. Leupolt Rechtsanwälte, Köln